Zwei Alemannia-Ruderinnen erobern die Masurischen Seen
Die Masurische Seenplatte, das sind hunderte Seen im Nordosten Polens, von denen viele mit Kanälen miteinander verbunden sind. Ideale Voraussetzungen also, um 210 Kilometer zu rudern, ohne immer wieder denselben See zu umrunden!
Claudia und ich treffen uns Samstags in Warschau, mit von der Partie ist noch Ursula aus Marbach. Wir erkunden ein bisschen die Stadt, wobei uns die Hitze immer wieder ins Kühle treibt, egal ob Schatten-Café, alte Kirche oder Einkaufszentrum. Sonntagmorgen besteigen wir den Fernbus nach Ruciane Nida am Niedersee, wo wir uns am Abend mit den restlichen Teilnehmern der Wanderfahrt im Hotel treffen. Es ist eine große Gruppe, die täglich fünf Vierer füllen wird. Die meisten Teilnehmer kommen aus Deutschland (von Berlin bis Baden-Baden und Essen bis Herrsching), es sind aber auch zwei Österreicherinnen, ein Schweizer und eine Französin dabei, dazu kommen unser Fahrtenleiter Lukasz, seine Freundin Barbara und die achtjährige Tochter Nikola.
Wir kennen uns nur zum Teil von früheren Fahrten, aber das ist kein Problem. Die Mannschaften werden jeden Tag neu gemischt und zusammengesetzt, auch wenn es nicht hinhaut, dass wirklich jeder mal mit jedem rudert. Und jedes Boot bekommt eine Flagge aus einem der fünf Teilnehmerländer.
Vor die Wasserung der Boote hat Neptun das Aufriggern gesetzt – am Montagmorgen wuseln also 27 eifrige Menschen um den Hänger herum, sortieren Ausleger, Skulls, Stemmbretter und Rollsitze, schrauben, was das Zeug hält, und lassen schließlich „Zorza“ (Polarlicht), „Monsun“, „Tajfun“, „Sztorm“ und „Grom“ (Donner) in den Niedersee gleiten. Ausnahmsweise gibt es einen Steg, der allerdings etwas zu hoch ist für Ruderer. Aber wir sind ja sportlich und schon dankbar, wenn es überhaupt einen Steg gibt – die sind hierzulande eher selten. Die erste Etappe führt uns einmal den Niedersee entlang und wieder zurück. Es hat merklich abgekühlt, der Himmel ist bedeckt und wir freuen uns über etwa 23 Grad!
Am nächsten Tag ist Quartierwechsel angesagt, also Taschenpacken und im Hänger verladen, damit sie dort ankommen. Die Etappe ist dreigeteilt, die erste Pause legen wir an einem Picknickplatz ein, für die zweite – nach einer Stippvisite auf dem Spirdingsee – halten wir kurz von Nikolaiken und verstauen die Boote im Schilf. Von hier ist es nur ein kurzer Spaziergang auf die Seepromenade des kleinen Touristenorts. Zwischenstopp in einem Café für eine Szarlotka (Apfelkuchen) mit Vanilleeis, dann rudern wir weiter zum nächsten Hotel. Dafür geht’s über den Talten-See in den kleinen Simon-See, an dessen Ufer sich eine Marina kuschelt. Unsere Boote können am Steg schlafen, wir im Hotel.
Nach einem wie immer reichhaltigen Frühstück starten wir zum letzten Quartier, in dem wir vier Nächte bleiben, dem „Resort Niegocin“ in Wilkasy am Löwenthin-See. Auf dem Weg biegen wir kurz in eine Sackgasse ab, in der keine Motorboote erlaubt sind. Das ist eine echte Wohltat. Die Masurischen Seen sind stellenweise so beliebt bei Wasser-Touristen, dass uns immer wieder Motorboote und Jetski das Leben schwer machen mit ihren Wellen. Außerdem kreuzen an manchen Tagen sehr viele Segelboote auf den Seen. Nach der Mittagspause wird es kühler, dann fallen einzelne Tropfen. In der Ferne blinkt ein gelbes Licht – Sturmwarnung. Es hilft nichts, wir müssen quer über den Löwenthin-See. Die Wellen werden mehr, auch ohne Motorboote, aber es geht noch mit dem Rudern. Auch der Wind frischt auf, ohne Jacke ist der Steuerplatz ziemlich frisch. Aber wir erreichen alle die Sandbucht unterhalb des Resorts, in der wir die Boote rausnehmen und auf Böckchen ablegen können. Ziemlich geschafft fallen wir ins Bett.
Auch am nächsten Morgen ist es zunächst noch kühl und windig, aber das ändert sich bald. Wir mäandern zwischen mehreren Inseln durch kleine Kanäle in den Tajty- und den Dejguny-See und genießen viel grüne Aussicht mit Birken und anderen Laubbäumen, am Ufer oft Schilfgürtel. Nachmittags rudern wir durch einen zweiten Kanal in Richtung Lötzen, das mittlerweile auch sehr touristisch orientiert ist. Lukasz will uns das lieber nur vom Wasser aus zeigen, zu überlaufen ist der kleine Ort. Wir fahren am Hafen vorbei und drehen wieder um. Der direkte Weg zu unserer Unterkunft wäre diagonal über den See, aber da sind wieder die gelben Lichter mit einer leichten Sturmwarnung. Es fühlt sich zwar nicht nach Sturm an, aber das Wasser ist schon reichlich kabbelig, so dass wir uns lieber am Ufer entlang zurückkämpfen. Ein anderes Boot versucht es erst auf dem direkten Weg, dreht dann aber lieber bei und zieht parallel zu uns zurück nach Wilkasy. Zur Belohnung für die Anstrengung hat Lukasz am Abend ein polnisches Grillfest organisiert. Es gibt das Nationalgericht Bigos, einen Eintopf aus Sauer- und Weißkraut mit viel Fleisch, außerdem Lagerfeuer mit Grillwürstchen und viel Wodka…
Der Anfang der nächsten Tagesstrecke durch den Kanal ist derselbe wie gestern, aber dann fahren wir geradeaus weiter durch den Kisajno- und Dargin-See in den Mauersee. Am Mittag legen wir in der Marina von Steinort an und bestaunen den mächtigen Gutshof, der mal der Familie Lehndorff gehört hat. Nach dem Krieg verfiel er ein Stück weit, jetzt wird an der Restaurierung gearbeitet. Den früheren Prunk kann man aktuell nur vor dem geistigen Auge sehen. Nach der älteren ostpreußischen Geschichte gibt es beim Anlegen abends noch einen Abstecher in die jüngere Geschichte. Am Pristanien-See steht eine der am besten erhaltenen Bunkeranlagen der Nazis, der sogenannte Mauerwald. Hier war das Oberkommando Heer untergebracht – im Januar 1945 gaben die Deutschen die Anlage kampflos auf, zum Sprengen blieb keine Zeit mehr. Der Rundgang ist ziemlich gruselig, man ist froh, wenn man wieder ans Tageslicht kommt. Die Boote liegen über Nacht im unvollendeten Masurischen Kanal, der eigentlich die Seenplatte mit dem Frischen Haff verbinden sollte. Zu 90 Prozent ist er auch fertig gebaut und teils mit Wasser gefüllt, aber dem Rest stand und steht die politische Lage im Weg. Ein Bus holt uns ab und bringt uns zum Hotel.
Morgens karrt uns derselbe Busfahrer zur „Wolfsschanze“. Das Prinzip von Lukasz ist, nicht nur landschaftlich reizvolle Rudertouren anzubieten, sondern den ausländischen Gästen auch Land und Leute näherzubringen. Dazu gehören landestypische Gerichte und Gepflogenheiten, die uns erklärt werden. Im ehemaligen Ostpreußen bietet sich außerdem natürlich die deutsche Geschichte an, die eng mit der polnischen verwoben ist. Ein Historiker, der aus dem benachbarten Rastenburg (heute Ketrzyn) stammt und lange zur „Wolfsschanze“ geforscht hat, führt uns durch die meterdicken Betonbrocken, die nach der Sprengung des Führerhauptquartiers im Wald herumliegen und langsam zumoosen.
Highlight des Morgens ist dann der Sackgassen-Trip in den Masurischen Kanal – mal schauen, wie weit wir kommen. Umgefallene Bäume liegen im Wasser und zwingen zum Ausweichen oder Skulls-Lang-Machen, See- und Teichrosen blühen um die Wette, immer wieder hängt Grünzeug an den Blättern. Eine verwunschene, sich selbst überlassene Natur, in der nur Vögel und das Plätschern unserer Skulls zu hören sind. Irgendwann ist Ende der Expedition, ein dicker Baumstamm versperrt die Durchfahrt. Wir drehen um und rudern wieder auf den Mauersee hinaus, nach Angerburg. Eine Stunde Aufenthalt, alle suchen Schatten, denn mittlerweile ist der Hochsommer wieder da. Das letzte Stück der Tagesetappe führt uns über den Schwenzait-See nach Ogonken.
Dort startet auch unsere letzte Ruderetappe überhaupt. Tag Nummer sieben hat ein besonderes Highlight zu bieten: wir fahren nicht mehr am Schilfgürtel entlang, sondern mitten durch! Es tun sich immer wieder Lücken auf, die manchmal sogar breit genug sind, um beidseitig zu rudern. Wenn nicht, dann halt einseitig oder vorher Schwung holen und Skulls lang oder der Steuermann muss paddeln oder mit einem Skull staken. Irgendwann öffnet sich der Schilfgürtel auf einen weiteren See, an dessen Ufer wir bei über 30 Grad einen schönen Picknick- und Badeplatz ansteuern. Die Rückkehr in die Boote fällt etwas schwer, aber wir ziehen durch bis zur Przewanki-Schleuse, die ein echtes Unikum ist: die einzige Schleuse in Polen, die auf einem Fluss betrieben wird, der nicht einmal eine Wasserstraße der untersten Klasse ist! Die Sapina ist ein Flüsschen, das nur Segler und Kanuten befahren dürfen – und wir natürlich. Direkt nach der Schleuse legen wir mit allen fünf Booten an. Eigentlich war noch eine Überfahrt über den Goldapger-See geplant, aber unser Land-Helfer Kamil hat herausgefunden, dass der Sandstrand am anderen Ende so voll ist, dass wir dort keinen Platz haben zum Abriggern. Innerhalb von zwei Stunden sind alle Boote auseinandergebaut, geputzt und aufgeladen. Der Bus holt uns ab und bringt uns zum letzten gemeinsamen Abendessen im Hotel. Am Montagmorgen um sieben steht er schon wieder da, weil die meisten nach Allenstein müssen auf den Zug nach Warschau. Denn so schön es ist in Masuren, es ist auch etwas umständlich zu erreichen. Aber vielleicht bleibt deshalb die größtenteils vorhandene Ursprünglichkeit der Natur noch lange erhalten.
Anmerkung: So weit bekannt, wurden die deutschen Ortsnamen verwendet. Das dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit und hat keinen weiteren Hintergrund!
Bericht + Fotos: Heike Lüttich