12:14:13 h – Dreiviertel, halb, halb, dreiviertel, ganz – das war unser Tuten: Allez, Karlsruh’, allez – auf einen erfolgreichen Lüttich-Marathon 2023! Nach vorne gelehnt, die Fußsohlen an den nächsten Spant gestemmt. Ich spüre die ersten zehn Dicken in den Bauchmuskeln.
Eine halbe Minute zuvor der angespannte Blick auf die Uhr: Es ist 12:14 h, wir sind noch nicht aufgerufen: Sehen die uns? Habe ich das Tuten überhört? Gehen uns gerade die ersten Minuten hops? Also der Schrei: VINGT-ET-UN!? – Zurück aus dem Megafon: “Encore vingt secondes.“ – Alles gut also, gleich zählen sie runter. Wir fahren auf Punkt über den Start – bei diesem Wetter keine Selbstverständlichkeit: Der Wind ist ordentlich, die Wellen entsprechend hoch. Das habe ich auf der Meuse beim Steuern bisher nicht erlebt. Schon vor dem Start also weit genug gegen den Strom fahren, damit sich die Mannschaft einstellen kann, dann ein paar Schläge machen, um die Einstellung zu testen. Müssen wir nachjustieren? Nein, passt alles. Sind die Stemmbretter fest? Die Dollen fest zu? Alle fertig? Blick auf die Uhr – es sind noch ein paar Minuten, wir können also wenden und treiben trotz Strömung nicht zu früh über den Start.
Die erste Brücke ist inzwischen hinter uns, die Mannschaft hat sich eingefunden: Johannes auf Schlag, Mariarita auf Co-Schlag, Rita auf der Zwei und Karl im Bug. Ihm hatte ich vor dem Rennen noch die Startnummer hinten ans Trikot geheftet. Die Wellen haben es in sich, während die Mannschaft mit der Bewegung kämpft, geht mir eine ganze Reihe von Hätte-Hätte durch den Kopf: Hätten wir Goldgrund vielleicht doch besser mal abgeklebt, jetzt kommt uns ganz schon Wasser über die Bordwand… Hätte ich doch mal noch eine Lage mehr – die entscheidende nämlich: Regenhose – angezogen, aber Wolle soll ja auch im nassen Zustand warm halten… Hätten wir besser den Wellenbrecher statt Goldgrund genommen, denn der hätte so herrliche Lenzklappen… Und: Hätten wir besser mal ein Schöpfgefäß mitgenommen. Die Wellen kennen kein Pardon, mittlerweile haben wir im Boot einen Pegel von mehr als fünf Zentimetern. Eindrucksvoller Wellengang bei jedem Schlag – ich muss mir was einfallen lassen. Die PET-Flaschen, die wir im Boot haben, sind alle 0,5 l – bis auf eine, wir haben eine Literflasche dabei. Also die beiden Steuerleinen jetzt nur noch mit einer Hand halten und aus dieser Flasche irgendwie ein Schöpfgefäß zaubern. Blick nach vorne, sind wir noch auf Linie? Kurz etwas nachjustieren, dann also weiter mit dem Traktieren der PET-Flasche. Nach ungefähr zwanzig Schlägen habe ich ein Ein-Liter-Schöpfgefäß in der Hand. Wie das ging, steht hier einfach nicht; mein (Schlag-)Mann weiß es, lassen wir es einfach zur Legende werden.
Und wir gehen in Runde zwei, aktuelle Zeit: 12:54 h. Vierzig Minuten für die erste Runde, allez, es geht weiter. Zusammenbleiben, ruhig auf der Rolle. Je näher wir der Atlasbrücke kommen, desto dichter kommen die Boote aneinander. Hoffentlich wird das nicht zu eng, die Vierer haben wir hinter uns, aber was macht der Rennfünfer? – Die machen Schöpfpause vor der Brücke. Wir fahren also innen, BACKBORD ÜBER, ich ziehe das Steuer mit aller Kraft nach Steuerbord. Wir sind um die Kurve – schneller und enger als vier andere Boote. Fühlt sich gut an, jetzt mit Schub gegen die Strömung. Nah am Ufer, der Wind ist gnadenlos. Wir kreuzen senkrechter und schneller als sonst, ich muss die Mannschaft aus Wind und Strömung bekommen. Gerade wieder gekreuzt – und wir überholen das Blaue Wunder: Monika steuert Andreas, Jan, Elsa aus Wertheim und Hans-Martin aus Braunschweig. Das Blaue Wunder wird mit 4:07:31 h Platz 31 erreichen.
Wieder in der Strömung, aktuelle Zeit: 13:34 h – Runde drei, wir sind bei ziemlich genau 40 Minuten pro Runde. Bei Wind und Wellen steigt der Pegel im Boot schnell wieder an, ich halte das Schöpfgefäß mit der rechten Hand hinter dem Steuersitz eng am Boden. Die Flasche füllt sich bei jedem Schlag, ich sehe zu, dass ich sie beim Vorrollen der Mannschaft ausgeleert bekomme. Füllen, leeren, füllen, leeren – manchmal brauche ich auch zwei Schläge für eine Runde. Immer den Blick nach vorne: Bleiben wir auf Linie, muss ich mit der Steuerleine nachjustieren? Ist hinter uns frei – oder muss ich die Ideallinie Schnelleren freigeben? Außerdem der Blick auf jede der Brücken – bloß keinen dieser Drähte übersehen, die von ein, zwei Brücken hängen! Nach der Atlas-Brücke wieder gegen den Strom: Fällt jetzt schon Energie von den Brücken? – Nein, das kommt erst in Runde vier, das ist noch zu früh; in Runde drei kann sich die Mannschaft auf den Schluck Wasser freuen, den es nach der Wende an der Spitze geben wird. – Und den gibt es dann auch, ich gönne mir auch einen. Böser Fehler, Runde vier und fünf werden lang werden.
Runde vier, aktuelle Zeit: 14:17 h, 43 Minuten für die Runde. “Oh, wir sind langsamer geworden?!” – Ja, sind wir – und jetzt kommt die schwerste Runde. Die Bugfigur, der kleine Drache, sitzt – allez, Karlsruh’, allez! Schön zusammenbleiben, ruhig auf der Rolle, lang bleiben! Überhaupt: Schöööööööööööön! Darauf hatte sich die Mannschaft vor dem Rennen geeinigt: Runde vier wird schöööön. Ich erinnere sie also daran, wehren können sie sich gerade eh nicht. Dafür halte ich das Boot in der Strömung auf Ideallinie und gegen die Strömung am Ufer aus dem Wind. Jetzt fällt auch die Energie von den Brücken. Und die Mühe lohnt sich: Ein paar hundert Meter vor uns sehe ich den Flying Dutchman. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns jetzt schon treffen: Uta steuert WD, Svanja, Antje und Frédéric. Schöööööön. Und Schub! Der Mannschaft sage ich lediglich, dass wir Boote vor uns haben, das reicht. Jetzt auf keinen Fall den Versuch starten, den Flying Dutchman zu überholen – das würde Kraft verpulvern, die wir in der letzten Runde brauchen. Und das wird auch so. Also Schub, alle zusammen, Blick ins Boot. Was machen wir hier eigentlich???
An der Spitze haben wir den Flying Dutchman erreicht, beide Boote kommen super um die Kurve, jetzt sind wir gleichauf! Als meine Mannschaft das blaue Boot neben uns erkennt, gibt es kein Halten mehr, das Adrenalin geht hoch. Höchste Zeit für Disziplin, jetzt brauchen wir die volle Kraft im Boot: Alle zusammen, gemeinsam, ruhig auf der Rolle und vor allem: Blick ins Boot, RUHE IM BOOT!!!
Und Schub – und wir gehen in die letzte Runde. Die Zeit ist jetzt egal, was zählt, ist, dass wir den Flying Dutchman an der Start- und Ziellinie hinter uns haben. Uta wird ihre Mannschaft eine knappe dreiviertel Stunde später mit 3:38:53 h auf Platz 10 ins Ziel fahren.
Jetzt bloß nicht mehr nachlassen, allez! Die letzte Runde wird die langsamste werden. Aber sie fühlt sich immer schneller an als Runde vier! Auf der Meuse haben wir nochmal ordentlich Gegenverkehr: Erst ein tief liegender Frachter, dann eine Liège-Navette: STEUERBORD ÜBER, Blickkontakt zum Kapitän, freiweg – und Schub! Jawohl, zusammen! Ich sehe den Flying Dutchman jetzt nicht mehr, den hält die Mannschaft im Blick – und muss dafür sorgen, dass der Abstand nicht mehr kleiner wird. Ein letztes Mal eng um die Atlas-Brücke, ich schöpfe die letzten Liter aus dem Boot. Keine Ahnung, wie oft ich das Gefäß ins Wasser geleert habe. Mein Schlagmann schätzt rund 40 Liter; das würde zu den höllischen Schmerzen in der Schulter passen, die mich am nächsten Morgen plagen werden. Jetzt wieder gegen Strömung und Wind, wir bleiben eng am Ufer, zusammen, ruhig auf der Rolle. Letztes Jahr kam an dieser Stelle der Achter, das war Motivation pur. Dieses Jahr also den Flying Dutchman hinter uns – in Entfernung, aber dennoch im Nacken. Ein letztes Mal umrunden wir die Spitze, BACKBORD ÜBER, der Schlagmann hilft beim Steuern. Noch ahnen wir nicht, dass die Mannschaft ein paar Minuten später das Steuern übernehmen muss… Nach dem Ziel wird sich die Steuerleine unter dem Steuer verheddern und wir legen allein mit Überziehen an. Jetzt aber geradeaus: Allez, Karlsruh’, allez! Noch 500 Meter bis ins Ziel. Blick ins Boot, alle zusammen. Noch 400 Meter. SCHUUUB! Sehr schön, jawohl. Die letzten 300 Meter, das Bootshaus ist gleich da. SCHUUUB – und zusammen. SEEEHR schön. 200 Meter bis ins Ziel, wir sind gleich da. BLICK INS BOOT, holt alles raus, was noch geht. Noch 100 Meter, ALLEEEEEEZ, SCHUUUUUB, ALLEEEEEZ. Tuuuuuuuuuuuuuuut – Vingt-et-un, 3:29:15 h, Platz 9. Geschafft.
Bericht: Silvia Maile
Und danach gab’s noch Kulturprogramm zur berühmten „Montagne de Bueren“, einer 260m langen Treppe mit 30% Gefälle und 374 Stufen rauf und wieder hinab. Daraus könnte man auch schließen, dass im Rennen “mehr drin“ gewesen wäre, zumindest eine gute Ausrede für Muskelkater 😉
RSNM-MarathonMeuse-ListeDéparts+Résultats.VR-231021
Fotos: Antje, Elsa, Johannes und Andreas